WELTEXKLUSIV: Das geheime Kapitel unseres Buchs!

Tschö Siggi!

„Segei Ewschuschgin? Sery Äluwschgin? Papa, wie heißt der Fußballer nochmal, über den Du ein Buch schreibst?“ 

Das war 2017 eine typische Frage meiner damals 8-jährigen Töchter – weil sie Zwillinge sind, haben die beiden nur ein Alter.

„Gerd Müller!“ Habe ich oft zum Spaß geantwortet und als mich daraufhin vier verdutzte Augen anschauten hinzugefügt: „Nee, Quatsch! Der hätte nicht so eine tolle Geschichte zu erzählen, wie Sergej Evljuskin!"

Es dauerte dann noch den einen oder anderen Monat, bis die beiden den Namen aussprechen konnten. Bis heute sind sie stolz wie Oskar, wenn sie Sergej in der Zeitung sehen. Sie schauen mich dann immer grinsend an und sagen fehlerfrei: „Schau mal Papa, da ist Sergej Evljuskin in der Zeitung!“

Die beiden werden in Zukunft sehr traurig sein, weil Siggi weniger in der Zeitung sein wird. Zumindest hier in unserer. Und wenn er Schlagzeilen macht, dann auch nicht mehr mit geilen Grätschen, tollen Toren oder perfekten Pässen. Demnächst wird unsere Nummer 15 nämlich sowas wie 007 und in dieser neuen Funktion in Braunschweig Verbrecher jagen. Schnell genug dafür ist er ja, das hat er in insgesamt 169 Ligaspielen, 11 Hessenpokalpartien, einem DFB Pokal Einsatz und 2 Verbandsligaspielen im Löwendress bewiesen. Beim Gedanken an Samstag, wenn Sergej Evljuskin sein 170. und letztes Spiel abliefern wird, bin ich gerührt und auch geschüttelt.

In den vergangenen Jahren mussten Sergej und ich regelmäßig Interviews zu unserem Buch geben und sind oft gefragt worden, ob es noch Anekdoten gibt, die es nicht ins Buch geschafft haben. Ich habe dann immer gesagt, dass tatsächlich alle interessanten, verrückten, sensationellen Dinge in dem Buch sind. Das stimmte aber nicht. Denn es gibt ein Kapitel, das bislang fest verschlossen in meinem Tresor geschlummert hat. Die BILD-Zeitung, der SPIEGEL, ja sogar der KICKER haben oft angefragt, aber ich habe immer gesagt, dass dieses legendäre Kapitel einfach zu brisant sei und definitiv nicht veröffentlicht werden könne. Aber hier und heute, zum Abschied der Legende Siggi, wird es doch veröffentlicht. Wie das ganze Buch, erzählt er auch diesen Lebensabschnitt in seinen eigenen Worten.

KAPITEL 14: „Der Anruf von Jojo Löw!“

„Als am 8. Juli 2014 mein Handy klingelte und ich den Namen Löw auf meinem Display leuchten sah, war ich nicht überrascht. Ich hatte schon länger damit gerechnet, das Jojo, so nenne ich Joachim, seit er mir mal verraten hat, dass er Jogi total bescheuert findet, mich kontaktieren würde. Ich drückte ihn weg und stellte das Handy auf lautlos, weil ich gerade die Straße vor meiner Wohnung fegte. Das war mir in dem Moment einfach wichtiger. Als ich drei Stunden später fertig war und geduscht hatte, schaute ich wieder auf mein Smartphone und erschrak: 27 Anrufe in Abwesenheit. Dazu drei SMS-Nachrichten:

„Hi Siggi, ruf mich bitte mal zurück. Dein Jojo!“

„Mensch Siggi, ich brauche dich. Bitte melde dich!“

„Siggi! Ich rufe aus Brasilien an. Lecker Mädchen, lecker Caipi. Ruf unbedingt schnell zurück!“

Natürlich rief ich nicht zurück und legte das Handy beiseite. Ich lasse mich doch nicht erpressen. Als es dann wieder klingelte, ging ich dran. Es war Jojo, er war ganz aufgelöst. Er sagte mir, dass er in Brasilien bei der Weltmeisterschaft sei. Sein Team hätte gerade gegen Brasilien 7:1 gewonnen und er hätte das Gefühl, dass es nicht besonders rund laufen würde. Aus diesem Grund wolle er für etwas frischen Wind sorgen und dieser Wind sollte ich sein. Ich sollte mich sofort in den Flieger setzen und nach Rio de Janeiro kommen, da wäre in 5 Tagen das Endspiel. Sein Plan: Ich sollte Sebastian Schweinsteiger ersetzen, der nicht die Leistung bringen würde, die der Trainer von ihm erwarte.

Richtig überrascht war ich von dem Angebot damals nicht. Ich stand schon seit der WM 2010 mit dem DFB in engem Kontakt, hatte den Verantwortlichen auf ihr regelmäßiges Bitten und Betteln hin aber immer und immer wieder mitgeteilt, dass ich andere Prioritäten habe als die Nationalmannschaft. Trotzdem ließen sie nicht locker. Der Anruf von Jojo Löw aus Brasilien setzte mich jetzt natürlich unter Druck, ich erbat mir Bedenkzeit. Nachdem ich aufgelegt hatte, zog ich meine Jacke an, ging raus auf die Straße, über die Kreuzung, an der Eissporthalle vorbei, direkt zum Auestadion. Das Tor stand offen, das Flutlicht war an. Es war ein wirklich magischer Moment, als ich den Rasen betrat und diese wunderbare nordhessische Luft tief einatmete. Ich ging bis zum Mittelkreis, steckte die Hände in die Taschen meines Mantels und spürte dort etwas. Es knisterte. Ich zog es heraus und hielt eine in Butterbrotpapier eingewickelte Stulle mit ahler Worschd in meinen Händen. Wie die da reingekommen ist? Keine Ahnung. Trotzdem biss ich herzhaft zu. Als ich kauend meinen Blick zum Himmel richtete, erblickte ich den zufrieden lächelnden Herkules, ich grinste zurück. In diesem Moment klingelte mein Handy erneut, Jojo war dran.

„Und?“ fragte er „hilfst Du mir? Wirst Du die WM für Deutschland retten?“

Ich musste keine Sekunde mehr überlegen und erwiderte: „Nein! Mensch Jojo, trotz unserer langen Freundschaft, das kann ich nicht machen. Ich bin gerade nach Kassel gewechselt und lebe mich hier langsam ein. Sorry, aber wenn ich jetzt zum Kicken nach Rio kommen würde, um da irgendein Spiel zu machen, würde mir das die ganze Vorbereitung versauen. Ich wünsche Dir trotzdem viel Glück. Ach ja, hier noch ein Tipp von mir: Wenn es im Endspiel lange 0:0 steht, dann wechsel den Mario ein. Der hat wie ich zwei Fritz-Walter-Medaillen. Der macht die entscheidende Bude, ganz sicher! Tschö Jojo! Ach Moment, biste noch dran? Ja? Eine Frage noch: Kennst Du Ahle Worschd? Nein? Nur Schwarzwälder Schinken? Vergiss es, Ich schicke Dir mal eine schöne Stracke. Bis bald!“

So war das damals. Und ich habe es bis heute keinen Moment bereut!“

Sergej und ich haben uns dann dazu entschieden, das Kapitel aus dem Buch zu nehmen. Irgendwie fanden wir es Jojo ääääh Jogi gegenüber nicht fair. Schweini hätte erfahren, dass er aufgrund seiner indiskutablen Leistung im Spiel gegen Brasilien aus der Mannschaft genommen werden sollte und Mario Götze, dass er seine Einwechslung nur Sergej zu verdanken hatte. Siggi hat mir später noch erzählt, dass Jojo ihn nach dem Sieg im Endspiel nochmal angerufen hat, um sich zu bedanken. Er wollte damals, in der 88. Minute, nämlich eigentlich Kevin Großkreutz einwechseln, hat sich dann aber an den Tipp von Sergej erinnert. Der Rest ist Geschichte.

Am Samstag ist nun also das letzte Spiel von Sergej Evljuskin im Dress des KSV Hessen Kassel. Standesgemäß verabschieden und ein letztes Mal feiern können wir ihn nicht, denn das Spiel findet ja bekanntlich ohne Zuschauer statt, wegen Corona. Aber immerhin kann er noch mal in seinem Wohnzimmer, dem Auestadion, auflaufen. Und vielleicht wird er dort wieder einen magischen Moment erleben. Wenn er ein letztes Mal im Mittelkreis steht und an den Juli 2014 denkt, als er genau an dieser Stelle seine erste Ahle Worschd-Stulle gegessen hat und der Herkules ihn anlächelte. Und ganz vielleicht wird er dann für sich entscheiden, den Vertrag mit Blau-Weiß Braunschweig zu zerreißen und doch noch ein paar Jährchen in Kassel zu kicken. Alles ist möglich.

Tja, was soll ich in einer so rührseligen Stimmung noch über Sergej schreiben? Geiler Typ! Super Mensch! Klasse Fußballer! Absolut bodenständig! Ein Glücksfall. Lieber Sergej, mein Buch über deine tolle Karriere heißt „Eigentlich wäre ich jetzt Weltmeister“. Aber heute weiß ich, dass dieser Titel falsch ist. Denn für mich und ganz sicher viele viele andere Kasseler, Kasselaner und Kasseläner bist Du längst Weltmeister! Der Weltmeister unserer Herzen!

Veröffentlicht: 21.01.2021

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Datum des Ausdrucks: 24.04.2024