Gott, Sie glauben nicht, was hier los ist

HERZSCHLAGFINALE
Günter Kratz ist seit dem 26. August 1978 Fan des KSV Hessen Kassel - er hat die letzten Oberligaminuten des KSV dokumentiert.
Eigentlich sollte es ein ganz normales Interview werden über die Leiden und Freuden eines KSV-Fans in den vergangenen achteinhalb Jahren. Doch schon im Flur wird klar, dass es damit nicht getan ist. Es wird die Beschreibung eines Termins mit Günter Kratz, Anhänger des KSV Hessen Kassel seit dem 26. August 1978 - dem Tag, an dem die Löwen 1:3 gegen Bergshausen in der Oberliga verloren.

Das Treffen findet am Samstag in der Wohnung von Heinz-Dieter Kratz in Lohfelden statt, Günters Bruder. Bei ihm ist er immer, wenn der KSV spielt. Ansonsten wohnt der 47-Jährige in Göttingen. Über der Dusche hängt eine KSV-Fahne, über der Badewanne trocknen zwei Löwen-Schals und die Hose, die KSV-Kapitän Thorsten Schönewolf am Donnerstag trug - als die Löwen mit dem 1:0-Sieg beim FSV Frankfurt den Aufstieg in die Fußball-Regionalliga perfekt machten. „Ein Freund hat die Hose ergattert, ich hab’ sie dann für ihn mitgenommen“, sagt Günter Kratz, der ein rotes T-Shirt trägt mit der Aufschrift: „Es ist nicht wichtig, wer als Erster losläuft, sondern wer als Erster ankommt.“ Ein Zitat des KSV-Trainers Matthias Hamann.

In der Küche erzählt Kratz, dass er in den vergangenen achteinhalb Jahren, auf dem Weg von ganz unten in die Regionalliga, nur ein Spiel der Löwen verpasst hat: das 2:3 in der Bezirksoberliga gegen Kaufungen. Sein Bruder kommt in die Küche mit drei Stapeln Eintrittskarten in den Händen. Günter Kratz hat sie alle aufgehoben.

Herr Kratz, was haben Sie empfunden, als der Schiedsrichter am Donnerstag um 17.07 Uhr abgepfiffen hat?

Kratz: Im ersten Moment habe ich nichts gedacht. Zwei Sekunden später war totale Erleichterung. Aber ich habe das ja alles aufgezeichnet.


Kratz holt ein Aufnahmegerät und die Kassette, auf der seine Gedanken von jenem 25. Mai 2006 gespeichert sind. Er spult die Kassette zurück bis zu dem Zeitpunkt, zu dem nur noch fünf Minuten nachzuspielen sind. Er drückt auf Wiedergabe. Seine zittrige Stimme ist zu hören:


„Jetzt haben wir genau fünf nach. Jetzt ist eigentlich zu Ende, jetzt beginnt die Nachspielzeit. 17.06 Uhr und 17 Sekunden. Jetzt gibt’s noch ’ne Ecke. Lieber Gott! Wenn ich jetzt an jemanden denke, liebe Brigitta, dann sind Sie das. 17.06 Uhr und 41 Sekunden. Oh Gott, und noch mal ’ne Ecke. Wir feiern ja jedes Mal schon, wenn sie ihn wegdreschen. Jetzt haben wir 17.07 Uhr und fünf Sekunden. Lieber Gott. Wenn wir jetzt eins fangen, ist alles vorbei. Und wenn er abpfeift, ist auch vorbei. Lieber Gott, hilf’ uns! Jetzt haben wir wieder den Ball. Jetzt machen wir einen Konter, und solange wir den Ball haben, können die anderen kein Tor schießen. So sieht das aus. Und nichts für uns, gar nichts mehr pfeift er für uns. Jetzt haben wir wieder den Ball. Jetzt müsste es langsam mal alle sein, 17.08 Uhr und fünf Sekunden. Lieber Gott, lieber Gott, Sie glauben nicht,was hier los ist. Es müsste eigentlich alle sein. Abseits wieder. Tja. Jetzt haben wir 17.09 Uhr. Na gut, jetzt geht’s weiter. 17.09 Uhr und 30 Sekunden. Abgewehrt. Lieber Gott, wie lange will der denn noch laufen lassen, Mann? Wie lang’ denn noch, Junge? Wie lange will der denn noch laufen lassen? Noch ’ne Ecke. Jetzt haben wir 17.10 Uhr gleich. Junge, ich fass’ es nicht. Noch ’ne Ecke. Er lässt fünf Minuten nachspielen. (Schieber, Schieber-Rufe im Hintergrund). Und jetzt, jetzt, 17.10 Uhr und 13 Sekunden. Jaaaaaa, Jaaaaaa, wir ham’s.“


Dann ist nur noch Jubel zu hören. Günter Kratz sitzt am Küchentisch, er hat Gänsehaut. Sein Körper zittert. Als ob er alles noch einmal erlebte. Dann erzählt er, dass seine Uhr drei Minuten vorgegangen, der KSV eigentlich um 17.07 Uhr und 13 Sekunden aufgestiegen sei - und dass er sich die Fernseh-Aufzeichnung des Spiels mittlerweile schon zweimal angesehen habe. „Es ist wie ein Traum. Aber langsam glaub’ ich es.“


Und wer ist Brigitta, an die Sie gedacht haben?

Kratz: Das ist eine Schach spielende Schönheitskönigin, die mir 1985 aufgefallen ist. Die war damals auf der Neuen Revue abgebildet. Nur deshalb habe ich mir die Zeitung damals gekauft. Am 24. Januar 2002, es war ein Donnerstag, bin ich per Zufall mit ihr in E-Mail-Kontakt gekommen.

Sie scheinen ein Genie im Merken von Daten zu sein. Sie wissen auch, wann der KSV wo gespielt hat.

Kratz: Ich lerne das nicht auswendig. Aber ich verbinde die Ereignisse mit Bildern. Ich war ja überall mit dabei. Außerdem habe ich ein Computerprogramm, das heißt „ich“. Da habe ich die ganzen Begegnungen gespeichert.

War die Tour mit dem KSV durch die unteren Klassen schlimm für Sie?

Kratz: Überhaupt nicht. Den KSV zeichnet nun aus, dass er sich von unten wieder nach oben gearbeitet hat. Und: Die Jahre haben das Team, die Klubführung, die Sponsoren und die Fans zusammengeschweißt. Ich hoffe, der Zusammenhalt bleibt. Nur so können wir es schaffen.

Warum sind Sie am 26. August 1978 eigentlich nicht Bergshausen-Fan geworden? Bergshausen hat damals schließlich gewonnen.

Kratz: Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass mir der Löwe gut gefallen hat. Der war immer in der Zeitung abgebildet. Wenn der KSV verloren hat, war der Schwanz angezündet.


<i>Von Florian Hagemann

HNA, 29. Mai 2006</i>

Veröffentlicht: 29.05.2006

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Datum des Ausdrucks: 20.04.2024